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Hintergrundwissen

Der Gwissenswurm

Aus: Ludwig Anzengruber. Werke. herausgegeben von Otto Rommel . 2. Band. ländliche Schauspiele S. 451- 460. 1922 by Kunstverlag Anton Schroll & Co., Wien

Bolin bezeichnet in einem Brief an Anzengruber die Novellen, die unter dem zusammenfassenden Titel „Zur Psychologie der Bauern“ erschienen, als eine prächtige Illustration zur Theogonie Feuerbachs. In der Tat würde es nicht schwer fallen, nachzuweisen, dass Anzengruber mit einer geradezu enzyklopädischen Vollständigkeit alle Probleme behandelt hat, die durch die Forderung des Christentums nach Unterwerfung der Natur unter eine asketische Sittenlehre aufgerollt werden. „Der Gwissenswurm“ bringt die Auseinandersetzung mit dem Problem der Sünde und dem damit eng verbundenen Problem des „Gewissens“.

Feuerbach gründet seine Sittenlehre auf den Glückseligkeitstrieb des Menschen. „Das Gewissen ist demnach kein über- und außernatürliches Wesen, sondern nur mein an die Stelle des verletzten Du sich setzendes Ich, nichts anderes als der Stellvertreter der Glückseligkeit des anderes auf Grund und Geheiß des eigenen Glückseligkeitstriebes.“ Die Sittlichkeit ist nichts anderes als die wahre, vollkommene, gesunde Natur des Menschen.“ Von diesem Standpunkt lehnt Feuerbach den Begriff des Opfers und der Askese entschieden ab und verdammt überhaupt jene Ethik, welche Fälle, wo Pflicht (d.i. eine Selbstverleugnung, welche aber nur die Selbstliebe des anderes gebietet) und Neigung in Widerstreit geraten, zu ihrem Ausgangspunkt, „zum Grunde der Zerstreuung des natürlichen Bandes zwischen eigenem und fremden Glück“ macht, als willkürliche Menschensatzung und Kasuistik. Von diesem Standpunkte aus lehnt er die Kantsche Sittlichkeit ebenso ab wie die christliche“ (Feuerbach, Werke, Erstausgabe III, S. 122: „Wahre Religion ist gebaut auf das Wahre, das Gute in der Menschennatur, nicht auf der Sünde Morast. Menschliche Schwachheit allein ist die Basis des christlichen Glaubens. O, wie schwach muss sein, was sich nur auf Schwäche stützt.“)

Die Zuspitzung auf den Gegensatz von lebensbejahender und lebensverneinender Ethik ist der neue Gedanke, zu dessen Gefäß Anzengruber das überlieferte und oft behandelte Motiv der Scheinheiligkeit macht. Alexander von Weilen hat auf Molieres „Tartüffe“, Friedrich Adler auf Rudolf Kneisels 1872 erschienenes und viel verbreitetes Preislustspiel „Die Tochter Belials“ hingewiesen.
(Friedrich Adler, „Der Gwissenswurm“. Ein Beitrag zu den Motiven Anzengrubers. Österreichische Rundschau vom 1. April 1914.: Anzengruber hat eine direkte Beziehung seines Stückes zu Kneisels „Tochter Belials“ abgelehnt, aber die Ähnlichkeiten sind auffällig. Im Mittelpunkt von Kneisels Stück steht der Gutsherr Freiherr von Kastan. Von ihm erzählt sein Neffe Ferdinand: „ Gestern erfahre ich, dass mein Oheim, der schon längere Zeit unter dem Einfluss einer frommen Dame steht, sein vermögen teilweise milden Stiftungen, teilweise jener Erbschleicherin vermachen will. Es soll jetzt auch ein Kandidat auf dem Schlosse sein, der den Freiherrn in seinem Vorsatze bestärkt.“ – „Vor mehr als zehn Jahren,“ berichtet an einer anderen Stelle Dorothea, jene „fromme Dame“, lernte unser gnädiger Herr in Wien, eine Opernsängerin kennen, welche ihn dazu brachte, sie mit ihr zu vermählen. Diese Vermählung, erst geheim gehalten, kam nach einigen Jahren zu dem Oheim des alten Herrn (=Vater des Freiherrn) und warf ihn vor Zorn auf das Krankenlager. Der Sohn eilte an das Sterbebett seines Vaters und musste hier einen feierlichen Eid schwören, jenem unwürdigen Bündnis zu entsagen. Vielleicht war er jener Frau auch schon überdrüssig – kurz, er gehorchte dem Gebot des Vaters und verließ sie, Geldunterstützungen, welche er sandte, wurden nicht angenommen, ebenso fest aber auch jede Einwilligung zur Ehescheidung verweigert. Kurz darauf verschwand jene Frau spurlos und alle Nachforschungen des Freiherrn nach ihr waren vergeblich.“ Den Freiherrn quälte nun die Reue, dass er jenes Bündnis einging, welches mit dem Tode jener Frau und ihrer Tochter endete, denn man hat ihm eingeredet, dass die verlassene Frau mit ihrem Kinde den Tod gesucht habe. „Armer Mann, durch diese Lüge hat man in dir Reue und Gram erzeugt, durch diese Lüge haben sie dich zu ihrem willenlosen Werkzeug gemacht.“ So klagt Klara, die als Pflegerin des kranken Freiherrn ins Haus kommt. – und die vermisste Tochter des Freiherrn ist. Sie weiß den Kranken in heiterste Stimmung zu bringen, sie verleitet ihn, wieder ein Gläschen Wein zu trinken und sich von den Bauernburschen vortanzen zu lassen. Aber die fromme Dame kommt hinzu und schreit: „Entsetzlich!“ und der Freiherr lässt den Stock fallen und ist wieder gefügig. Klara zerreißt endlich das Netz der Betrüger, indem sie sich dem Freiherrn zu erkennen gibt und ihm einen Brief der toten Mutter zeigt, die dem treulosen verziehen hat.)

Aus der Tradition des Wiener Volkstückes allein ließe sich ohne besondere Mühe eine stattliche Ahnenreihe für die Gestalt des Dusterers aufstellen. Aber gerade an diesem Schulbeispiel lässt sich erkennen, dass es in der Dichtung nicht auf das Was, sondern stets auf das Wie ankommt. Der neue Geist ist es, der die Originalität einer Dichtung ausmacht, oder die neue dichterische Form, die geschaffen wird, nicht der der Tradition entnommene Rohstoff.

Dürfte man – trotz Anzengrubers entschiedenem Einspruch - annehmen, dass - dem Dichter unbewusst – bei der Konzeption des „Gwissenswurm“ eine dunkle Erinnerung an die „Tochter Belials“ wirksam gewesen sei, so wäre bewundernswert, mit welcher Einsicht er das konventionelle Motiv von der heimlichen Heirat des vornehmen Herrn mit einer Opernsängerin für die bäuerliche Erlebniswelt umgedacht hat. Es wurde eine einfach, alltägliche Sache daraus. Man begreift Wastls erstaunte Frage:“Und dös is dö ganze Gschicht?“ Zwegen dem tust so verzagt?“ Wohl hat der Bauer gesündigt, aber seine Sünde ist – in Anbetracht der Umstände, unter denen sie geschah – keine von denen, die den geraden Stand des Menschen zur Natur verrücken, und es ist Betrug., eine solche Abweichung vom Gesetz der Monogamie als Hebel zu benützen, den Sünder in Askese und Weltflucht hinein zu ängstigen und ihn dadurch abzuhalten, die wirtschaftlichen Folgen der „Sünde“ gut zu machen. Dieser natürlichen und gesunden Auffassung der Sexualität entsprechend, löst sich alle Beklemmung einfach und natürlich. Die Sündenromantik zerstiebt vor dem Leben, sowie man es herzhaft ins Auge fasst. Die ledige Mutter, die schon bei ihrem Falle ihren Vorteil nicht außer Acht ließ, hat sich ihr Glück zu schmieden verstanden, das „Sündkind“ aber ist ganz prächtig gediehen, weil man es nicht zum Opfer für fremde Sünde gestempelt hat, und sagt ein Vergelte es Gott für das Geschenk des Lebens, das ihm recht wohl gefällt.

Der dichterische Gedanke der Komödie ist, an Stelle der pathetischen Vorstellung von der „Verführten“ und dem „Sündkind“ die natürlichen lebendigen Verhältnisse zu sehen und so an einem Spezialfall Weltverdüsterung und Weltbejahung zu kontrastieren. Die Form des Stückes ist also die des Enthüllungsstückes. Die Handlung - die Sünde des Bauern - liegt in der Vorgeschichte und wird nach und nach ins richtige Lot gerückt. Dadurch ist der Bau des Stückes bedingt. Dass es nicht auf Spannung gestellt ist, bemerkten schon die Rezensenten der Erstaufführung. „Mit einer gewissen Behäbigkeit werden die verschiedenen Stadien einer Erbschleicherei aufgedeckt. In dem Stücke steckt weit weniger Spannung und schneidiges Wesen als in Anzengrubers früheren Arbeiten; ein genrehafter Zug novellistischen Kleinlebens waltet vor. Es fehlt eine Gestalt von starkem, dramatischem Atem. (Neue freie Presse 13. U. 22. Sept 1874)

Diese Eigentümlichkeit ist im Wesen des Stückes begründet, das vollsaftiges, erdenfestes Leben darstellen will, in dessen gesundem Boden weder ehrlicher noch schwindelhafter Überschwang gedeihen soll. Die Poltner-Episode freilich, die außer allem Zusammenhang mit der Idee des Stückes steht, mag ihre Entstehung außer der Freude und allerlei Komik wohl auch dem Wunsche Anzengrubers zu verdanken haben, dem greisen Rott eine kurze Rolle zu schreiben, die er noch ohne Schwierigkeiten gedächtnismäßig bewältigen könne.

Eine breite, behagliche Exposition, die noch fünf Szenen des zweiten Aktes umfasst, stellt den gutmütigen und einst so lustigen „Sünder“ zwischen den heuchlerischen Weltverdüsterer und die lachende Lebenslust (Wastl-Horlacherlies) und lässt ihn umständlich seine Verdüsterung und die Wandlung seiner Stimmung erzählen. Die Ankunft des Fuhrmannes Leonhardt und seine Botschaft aus dem wirklichen Leben, das unter dem Einflusse der Schreckbilder, die Dustere aus dem Reiche des Transzendenten herauf beschwor, bisher noch gar nicht befragt wurde, bildet das erregende Moment: es erfordert Erforschung des Tatbestandes. Der Besuch bei der Bäuerin an der Kahlen Lehnten (2. Akt, zweite Hälfte)) bringt die Aufklärung über den einen Punkt, , lässt aber das Dunkel über das Schicksal des Sündkindes noch düsterer und beängstigender erscheinen (3. Akt), bis das lachende Leben in der Gestalt der Horlacherlies die volle Erlösung bringt.

Der dritte Akt fasst den Stimmungsgehalt des ganzen Stückes noch einmal höchst wirksam zusammen , das Melodram der Mittelszene steigert die Angst des Bauern bis zur erschütternden Tragik, bevor sich alle Beängstigung in befreiende Klarheit löst. Am Schlusse des ersten Aktes wird das Jubellied von der schönen grünen Welt misstönend durchkreuzt von dem Bußgesang „Erlös uns von des Lebens Pein“ , am Ende des Stückes sind die Disharmonien gelöst und frei erklingt der Gesang: „Der Herrgott hat´s Leben zum Freudig sein geben!“

Der „Gwissenswurm“ entstand in einer kurzen Pause des Aufatmens aus den schweren Kümmernissen, welche die Erkrankung seiner Mutter über den Dichter gebracht hatte. Die Wolkersdorfer Kur schien gut anzuschlagen, auc seine Frau, die „recht krank war“, war auf dem Wege der Besserung und so befand auch er sich „körperlich wohl und geistig noch besser“. Nicht weniger als neun Stoffe hatte er gleichzeitig unter der Feder, darunter zwei Bauernkomödien. „Der Gwissenswurm“, Anfang April 1874 begonnen, war am 11. April schon nahe zum dritten Akt vorgerückt und wurde am 16. April 1874 beendet; nur am Ausdruck wurde noch gefeilt und dabei holte Anzengruber von Rosegger Auskünfte über einige Ausdrücke der bäuerlich-landwirtschaftlichen Terminologie ein.
Schwierigkeiten machte die Besetzung. A. Swoboda war aus dem Verbande des Theaters an der Wien ausgeschieden, Rott, der erste Darsteller des Meineidbauern war schon alt und kam wegen seiner zunehmenden Gedächtnisschwäche für eine große Rolle nicht mehr in Betracht. Die Rolle des Poltnerbauern wurde für ihn geschrieben., während der Dustere dem Komiker Friese, Grillhofer der frischen Kraft Martinellis zufiel. Anzengrubers Vorschlag über die Rollenbesetzung vom 26. Mai 1874 ist von besonderem Interesse, weil er interessante Aufschlüsse darüber gibt, wie sehr der Dichter trotz aller Sorge um Naturwahrheit immer die Forderungen des Theaters berücksichtigte, und zwar ohne sich an einen bestimmten Darsteller zu binden. „Friese kann aus dieser Rolle etwas Bedeutendes machen, sie ist zwar fertig, aber auch der einzige Charakter des Stückes,, der sehr verschiedene Auffassungen und Wiedergaben möglich macht, es liegt dem Komiker von echtem Schrot und Korn näher, aus diesem Intriganten eine ergötzliche Figur zu schaffen, als dies dem Charakteristiker möglich ist, die Rolle kann outriert werden, aber das darf dann eben nur der Komiker tun. Zwei Charakterdarsteller als Grillhofer und Dustere r einander gegenüber werden nie die Wirkung erzielen.“

(So fassten auch Lewinsky (Grillhofer) und Bonn (Dusterer) ihre Rollen auf, als am 7. März 1896 (Neues Wiener Tagblatt) der Gwissenswurm zum erstenmal auf dem Burgtheater aufgeführt wurde. Von der richtigen Erkenntnis ausgehend, „dass die lauernde Scheinheiligkeit des gewissenlosen Erbschleichers nicht zu tief in Schwarz gemalt werden darf, weil wir sonst über den satanischen Bösewicht den dummen Teufel auszulachen vergessen, stimmte der Künstler den Dusterer auf den Lustspielton“. Lewinsky gab des alten Grillhofer ganz als das Gemisch von Aberglauben, Schlauheit, Biedersinn, Argwohn, Todesfurcht und Lebensfreude, das der alte Bauer sein soll.)

Die Erstaufführung am 19. Sept. 1974 war nach Rosners Zeugnis entgegen der Angabe der „Neuen Freien Presse“ schlecht besucht, brachte aber einen „durchschlagenden Erfolg“, eine Wirkung, die umso höher einzuschätzen ist, als sie eben nicht durch eine Handlung von starker dramatischer Kraft erzielt wurde, sondern von den Charakteren ausging.

Inszenierung und Darstellungen waren musterhaft . „Bei der Einführung solcher Bauernstücke scheinen alle guten Traditionen der Volksbühne im Theater an der Wien wieder aufzuwachen und man tut dann einen guten Monat lang Buße für alle Cancans, für alle Liederlichkeiten und Pfefferungen der sündigen Operette“. Die Geistinger bot eine Meisterleistung, mit der nur Fräulein Herzogs Bäuerin auf der Kahlen Lehnten verglichen werden konnte. Wundervoll war das Zusammenspiel. „Jeder einzelne Schauspieler war ausgezeichnet an seiner Stelle und inszeniert war das Ganze in einer Weise, dass man erstaunt fragen musste, wie das auf einmal daherkomme, wie an der Stelle des raffiniert frivolen Wesens, das sich jetzt auf unseren Vorstadtbühnen eingebürgert hat, so plötzlich diese lustige Natürlichkeit, dieses freie kräftige Esprit treten konnte, das für uns Stadtleute so viel Anziehungskraft besitzt, das uns für Dorfgeschichten begeistert hat, selbst wenn sie pomadisiert waren. Meisterhaft die Szene des Briefvorlesens, die im Buche langweilig, erschlaffend wirkt. Im Buche schien es eine schwierige Klippe für das Stück, auf der Bühne war das ein psychologisches Detail von erschütternder Wahrheit, das eine minutenlange Unterbrechung durch rasenden Beifall zur Folge hatte, der durch das Haus fuhr. Wer ein Theaterstück liest, der hüte sich sorgsam davor, darüber zu reden“. („Deutsche Zeitung“, 20. Sept, 1874)

Was Wunder, dass Anzengruber selbst die Auffassung „vielleicht ein halbduzendmal“ besuchte. „Nur zu mein eigenen Vergnügen, weil s´ so gut gspielt haben. Und, wissen S´ jedes Mal hab i mi in a andere Losch setzen können. Platz war immer.“

„Der Gwissenswurm“ ist die gangbarste der Komödien Anzengrubers geworden. Jede Figur ist so in sich abgerundet, wurzelt bei allem Scheine der Lebenswahrheit so fest i der Tradition, dass sie zu jeder Zeit gute Schauspieler, Komiker und Charakterdarsteller, gelockt hat.

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